Zukunft der Augenheilkunde 

Die Patientenzahlen in der Augenheilkunde sind in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Der medizinisch-technische Fortschritt sowie die mit der demografischen Entwicklung verbundene Nachfragesteigerung sorgen für eine hohe Auslastung der Augenarztpraxen. Doch das Angebot an augenärztlichen Leistungen wächst nicht ausreichend mit.

Zwar ist die Zahl der Augenärzte seit 2011 um 12,4 % gestiegen 1, doch die derzeitige Altersstruktur der Augenärzte erfordert eine hohe Zahl nachwachsender Ophthalmologen. In Niedersachsen bspw. sind 34,6 % der Augenärzte älter als 55 Jahre 2 und ihr Ersatz sollte ja überwiegend aus den Universitäten kommen, wo sich hoffentlich viele Studierende für eine Ausbildung zum Facharzt für Augenheilkunde entscheiden. Doch das Berufsmonitoring der KBV 3 zeigt ein anderes Bild: Die Frage an die Studierenden welches Facharztgebiet sie wählen würden, beantwortet nur 1 % mit der Antwort Augenheilkunde. Damit steht die Augenheilkunde auf der Wunschrangliste auf dem letzten Tabellenplatz. Auch auf die Frage „Welche Fachrichtung kommt für Sie in frage?“ beantworten nur 5,7 % mit „Augenheilkunde“. Die Ergebnisse sind umso ernüchternder, da jeweils Mehrfachantworten möglich waren.

Das Angebot wird weitereingeschränkt durch bereits manifestierbare Trends wie mit der zunehmenden Feminisierung einhergehende Verkürzungen der Arbeitszeiten sowie die heute schon dramatische Problematik der Rekrutierung von Nachfolgern außerhalb von Konzern- oder Gruppenstrukturen. Die ohnehin immer weniger zur Verfügung stehenden potenziellen Nachfolger sind auch immer weniger bereit, die unternehmerische Belastung neben der schwer zu vermeidenden täglichen Arbeitsüberlastung auf sich zu nehmen.

Neben der Problematik, das ärztliche Angebot aufrecht zu erhalten muss sich die Augenheilkunde auch darauf einstellen, bei den medizinischen Fachkräften in immer größere Besetzungs- bzw. Nachbesetzungsprobleme zu geraten. Die PriceWaterhouse Group beziffert für das Jahr 2020 das Angebot an Ärzten auf 267.000 und die Nachfrage auf 322.000. Für die nicht-ärztlichen Fachkräfte wird das Angebot mit 1,459 Mio. Personen angegeben, die Nachfrage beträgt 1,6 Mio. Personen. In der Prognose für 2030 bieten noch 229.000 Ärzte sich an, die Nachfrage steigt auf 395.000 und bei den nicht-medizinischen Fachkräften steht einem Angebot 1,235 Mio. Personen eine Nachfrage von 2,02 Mio. entgegen. Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage steigt also bei den Ärzten um 201 %, beim nicht ärztlichen Fachpersonal um 456 %.

In einem Markt würde angesichts dieser starken Übernachfrage der Preis regulierend eingreifen. Die starken Lohnkosten- bzw. Honorarsteigerungen würden das Angebot steigen lassen und es würde auf Frist gesehen ein Gleichgewicht entstehen. Der Gesundheitsmarkt ist allerdings streng reguliert, Lohn- und Honorarsteigerungen sind nicht einfach umsetzbar, da der Preis für die Leistungen über Gebührensysteme wie EBM, GOÄ oder DRG gesetzlich geregelt wird. Die steuernde Wirkung kann sich also nicht entfalten, daher muss das Ungleichgewicht durch weitere Eingriffe in den Markt exogen bearbeitet werden.

Welche Ansatzpunkte gibt es?

Es beginnt mit den Studienplätzen für Medizin, die sich ja entsprechend der Nachfrage entwickeln müssten. Im Wintersemester 1998/1999 waren 82.333 Medizinstudenten eingeschrieben, im Wintersemester 2018/2019 waren es 96.115 4. Unter der Annahme, dass etwa gleichviele Mediziner in den Beruf starten wie in den Ruhestand gehen, und man gleichzeitig die oben geschilderten Aspekte zur Arbeitszeitreduzierung in Betracht zieht, reicht die Steigerung der Studentenzahlen um 16,74 % bei Weitem nicht aus, um die steigende Nachfrage zu decken. Noch ernüchternder sind die Zahlen bei Arzt- und Praxishilfen in ambulanten Einrichtungen. Nach Statistik der KBV 5 waren 2013 insgesamt 535.000 Menschen in ambulanten Einrichtungen als Arzt- Praxishilfe tätig. Fünf Jahre später sind es 551.000, somit eine Steigerung von nur 2,99 %. Die Eingriffe in den Markt, die es seitens der Politik und Berufsverbände gegeben hat, wirken offenbar nicht, das Ungleichgewicht besteht und wird sich in den nächsten zehn Jahren dramatisch verstärken. Denn eine deutliche Steigerung der Anzahl an Medizinstudenten oder eine der Nachfrageentwicklung angepasste Zunahme der medizinischen Fachangestellten ist nicht zu erwarten, da keine bahnbrechenden Veränderungen der gegebenen Rahmenbedingungen in Sicht sind.

Was kann dann helfen? Wie kann die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau gesichert werden?

Es gibt erste Ansätze, die derzeit anfangen in den Praxen und Krankenhäusern zu wirken. Das erste Schlagwort lautet Entbürokratisierung und Delegation, das zweite Schlagwort heißt Digitalisierung. Den Rahmen für die Digitalisierung hat das Bundesministerium für Gesundheit geschaffen. Die Einführung von elektronischer Patientenakte und elektronischem Rezept, der Zugang für digitale Dienstleister mit der App auf Rezept, die Unterstützung der Telemedizin sowie der Aufbau eines Forschungsdatenzentrums sind wichtige Rahmenfaktoren, die es gilt, zu nutzen. Auch konkret wird die Entbürokratisierung durch die Gesetzgebung gefördert 6. Das Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation von Dezember 2019 sieht einen Innovationsfond mit einem jährlichen Volumen von 200 Mio. € zur Verbesserung der digitalen Angebote vor. Krankenkassen sollen digitale Innovationen fördern, Apotheken und Krankenhäuser sind verpflichtet, sich an die Telematik Infrastruktur anzuschließen; Ärzte können dies verweigern, sehen sich dann aber einer Honorarkürzung ausgesetzt (seit März 2020 sind dies 2,5 %, zuvor war es 1 %). Für den Patienten können Ärzte Apps verschreiben, die hilfreich im Alltag sind und bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck u.Ä. helfen, wichtige Informationen zu dokumentieren oder den Patienten daran erinnern, dass er selbst eine Aktivität starten soll (Tropfen nehmen, Blutdruck messen usw.). Die behandelnden Ärzte haben Zugriff auf diese Daten und können so entbürokratisiert die Versorgung ihrer Patienten verbessern.

Die Realität sieht anders aus

Einer Studie des Gesundheitswirtschaft Rhein-Main e.V. zufolge nimmt die Bürokratisierung trotz Digitalisierung nicht ab, sondern zu 7. Danach treiben zahlreiche Institutionen die Bürokratisierung voran, obwohl kaum ein Grenznutzen erwartet wird. Als einer der Haupttreiber wird der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) genannt. 15 bis 20 % aller Krankenhausfälle werden durch den MDK jährlich geprüft. Das sind gut 3 Mio. Prüfungen pro Jahr, die aufgrund hier weiter fehlender Digitalisierung weitgehend händisch erledigt werden und viel Schreibarbeit erfordern. Ärzte und Fachkräfte kümmern sich also darum, dass das Krankenhaus seinen Erlös behält und nicht um die Patienten.

Ein anderes Beispiel ist die Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung: Aufwendige Abstimmungsarbeiten zwischen den Behandlern sind nötig, da die Digitalisierung nicht so weit fortgeschritten ist, wie sie sein sollte. Die Studie des Gesundheitswirtschaftsvereins Rhein-Main kommt im Ergebnis zu 10 Handlungsempfehlungen für die Politik, die auf Entbürokratisierung abzielen und empfiehlt auch den Leistungserbringern, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Außerdem wird insbesondere auch zur „Investition in digitale Technologien geraten, die die dazu geeignet sind, bürokratische Tätigkeiten zu automatisieren und Redundanzen zu vermeiden, z.B. voice to text, smarte Technologien, Online-Check-in zur Vereinfachung der Patientenanmeldung.

Dabei gibt es inzwischen viele digitale Produkte, die helfen könnten und so Ärzte und MFA dabei unterstützen, mehr Zeit für die Patienten zu gewinnen.

Digitalisierung und künstliche Intelligenz

Die Delegation ärztlicher Leistungen wurde lange kontrovers diskutiert: „Die politische Motivation von Delegation ärztlicher Leistungen entpuppt sich somit als ein trojanisches Pferd mit den Zielen: Zerschlagung angeblich ärztlicher Macht über die Heilkunde und die Umverteilung vermuteter materieller Pfründe.“ 8

Der Aufsatz von R. Hoffmann et.al. beschäftigt sich mit der Delegation insbesondere vor dem Hintergrund des Akademisierungsprozesses von Gesundheitsfachberufen (Bologna-Prozess). Die Notwendigkeit der Delegation streiten aber auch die Autoren nicht ab und schlagen eine Aufteilung der ärztlichen Leistungen in nicht delegierbare, delegierbare und zu substituierende auf. Zu Letzteren werden die von Ärzten im Alltag zu erledigenden nicht-ärztlichen Aufgaben gezählt, also Verwaltungsaufgaben wie Kodierung, Dokumentation und Ähnliches.

Eine andere Unterstützung bieten in der Zukunft möglicherweise im Bereich der Diagnostik die künstliche Intelligenz und im OP der Roboter.

Eine Studie amerikanischer Forscher zeigt, dass eine dort getestete Software in der Lage war, autonom und ohne Experten im Hintergrund auf Basis von Fundusbildern die Diagnose Diabetische Retinopathie oder Diabetisches Makulaödem zu stellen 9. Konsequenterweise wurde dann Anfang 2018 von der FDA erstmals für ein Gerät der Firma IDx Technologies Inc. die Zulassung erteilt. Das Gerät begutachtet Fundusbilder mittels künstlicher Intelligenz und entlastet somit Ärzte und MFA, denn Mydriasis ist nicht notwendig. Auch im Bereich der OCT-Diagnostik laufen verschiedene Studien mit dem Ziel, auch hier mittels des Einsatzes künstlicher Intelligenz die Ärzte zu entlasten und sogar die Versorgung zu verbessern. Denn für den Erfolg einer Injektionstherapie ist insbesondere ein engmaschiges Monitoring notwendig. Könnte man dem Patienten ein Monitoring daheim ermöglichen würden unnötige Kontrollbesuche beim Augenarzt eingespart 10.

Der Leiter der Studie, Prof. Johann Roider (Universitätsaugenklinik Kiel), sieht die Gefahr eines Ersatzes des Arztes durch KI nicht, sondern vielmehr die Chance die schon heute drohende Überlastung der Praxen abzumildern.

Es gibt also Möglichkeiten der Digitalisierung, Entbürokratisierung und der Delegation, die Praxis zeigt allerdings, dass das Umsetzungstempo derzeit nicht besonders hoch ist. Es braucht deutlich mehr Aufklärung und Anreize für die Unternehmer, dies in den Praxen auch umzusetzen. Der Arzt und Unternehmer in der Augenheilkunde muss erkennen, dass die Möglichkeiten dem Personalmangel und der Überlastung wirklich helfen, er muss aktiv managen, er muss sich in Prozessveränderungen einbringen und auch gegen Widerstände bei den eigenen Mitarbeitern durchsetzen. Eine anstrengende Aufgabe, die nur dann angegangen wird, wenn es sich grundsätzlich lohnt. Könnte nicht vielleicht doch der Preis ein Treiber für eine schnellere Umsetzung der gewünschten Schritte sein?

In einer Welt, in der die Leistung – egal, wie qualitativ hochwertig sie erbracht wird – immer gleich vergütet wird, werden keine ausreichenden Anreize für unternehmerische Entscheidungen gesetzt. Wenn man durch den Einsatz moderner Technologie die Qualität in medizinischer Hinsicht und mit Blick auf den Kunden (Patienten) verbessert, dann sind diese sicherlich auch bereit, dafür zu zahlen. Die Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen sollten darüber nachdenken, wie es gelingt, Qualität auch besser zu vergüten. So genannte Pay for Performance – Modelle konnten sich in Deutschland nicht durchsetzen. Wenn aber gute oder herausragende Qualität nicht belohnt wird, wird es keine schnelle Entwicklung aus dem Markt herausgeben. Der Gesetzgeber muss die Rahmenbedingungen ändern, nicht noch mehr regulieren, sondern dem Markt auch im Gesundheitswesen mehr zutrauen. Denn je mehr man versucht, die Elemente des Marktes mit Elementen einer regulierenden Planwirtschaft (Budgets, Festpreise, Normzahlen etc.), desto eher verschärft man die Probleme, als dass echte Lösungen entwickelt werden 11.

Will man mehr Markt im Gesundheitswesen muss man sich die Bedingungen für einen funktionierenden Markt ansehen und versuchen das Gesundheitswesen in diese Richtung zu entwickeln: Transparenz:

  • Jeder Nachfrager muss das Angebot hinsichtlich Preis-Leistungsverhältnis beurteilen können. Dafür fehlen auf breiter Basis sachliche Informationsmöglichkeiten – im Gegenteil, es entwickeln sich Produkte, die Anwender kaufen können, um Qualität zu suggerieren. Ein Vorschlag für mehr Transparenz wäre ein amtliches Verzeichnis analog der Kategorisierung der Hotels. fünf -Sterne für genau definierte und auf Bundesebene abgestimmte Kriterien würden zumindest die Struktur- und Prozessqualität transparent machen. Darüber hinaus könnte, wie es in Dänemark in Restaurants gehandhabt wird, verpflichtend der öffentliche Aushang der Hygienekontrolle eingeführt werden 12. Seit der Einführung des Systems hat sich die Zahl der hygienischen Beanstandungen bei den staatlichen Kontrollen halbiert.
  • Homogenität des Angebots: Wenn es nur einen Preis gibt, dann müssen die auf dem Markt gehandelten Güter in Bezug auf Qualität, Aufmachung und Verpackung gleich sein, ansonsten ist der Preis unfair. Die Homogenität der Güter im Gesundheitswesen wird gerne unterstellt, aber wohl alle Teilnehmer wissen, dass dies nicht der Fall ist. Es braucht daher unterschiedliche Preise.
  • Markteintritt: Die Preise auf dem Markt sind stark vom Angebot abhängig. Ein freier Marktzugang ist Voraussetzung für ein Angebot, dass sich der Nachfrage stetig anpasst. Im Gesundheitswesen ist der Markteintritt streng geregelt, über Planung der Krankenhäuser durch die Bundesländer sowie der Kassenarztsitze über die Zulassungsausschüsse.

Die Kriterien zeigen, dass es den vollkommenen Markt im Gesundheitswesen nicht geben wird. Es gibt ihn aber auch in der Wirtschaft nicht, daher wird hier versucht, regulativ in Richtung des vollkommenen Marktes zu wirken. Wenn dies auch im Gesundheitsmarkt verstärkt getan wird, wird sich die Entwicklung von Innovationen beschleunigen. Die Entscheider brauchen Anreize und keine Beschränkungen, der Staat muss fördern. Transparenz für den Verbraucher ist schaffbar, hier muss schneller und mit mehr Anstrengung voran gegangen werden. Ansonsten wird das Gesundheitswesen allein aufgrund des Mangels an Ärzten und Fachkräften einen Kollaps erleiden. Ähnlich wie in Pandemiezeiten, in denen man feststellen musste, dass das Lieblingsendgerät der Gesundheitsämter das Fax ist, wird man sich die Frage erlauben müssen, warum man nicht beizeiten die Weichen richtig gestellt hat.

Die Augenheilkunde muss sich „intern“ besser aufstellen

Es ist zu hinterfragen, warum in der Beliebtheit der Fachgebiete der Medizinstudenten die Augenheilkunde weit hinten steht und ob auf dieser Analyse aufbauend geeignete Schritte gegangen werden können, um die Attraktivität des tollen Fachgebiets zu steigern. Derartige Initiativen sind dem Verfasser nicht bekannt. Die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Ophthalmologie bietet zwar ein Kapitel „Was macht die Augenheilkunde attraktiv?“ 13, die Frage aber, ob sich ein junger Mediziner nach betrachten dieses Kapitels begeistern lassen hat oder eher noch abgeschreckter ist, möge jeder einmal für sich beurteilen. Aber so viel ist klar: Dass kann man besser machen.